Corona: “Immer mehr Palästinenser erwägen die Flucht nach Europa”
6 min readE.tritt nicht ein, wie Sie möchten. Als Philippe Lazzarini im April Leiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wurde, stand die Organisation wieder kurz vor dem Bankrott und das neue Coronavirus hatte gerade begonnen, sich in den Lagern auszubreiten. Aber nach Aufenthalten in Ruanda, im Irak und im Libanon sind die Schweizer gut auf Krisen vorbereitet. Warum besucht er Deutschland in seinem neuen Büro als eines der ersten europäischen Länder, und das für einige Tage? “Deutschland ist nicht nur einer unserer wichtigsten Geber”, sagte Lazzarini per Videolink. “Die Bundesrepublik ist jetzt ein wichtiger Akteur im Nahen Osten.”
WELT: Herr. Lazzarini, Sie haben Ihre neue Rolle inmitten der Pandemie übernommen. Wie ist die Situation in den palästinensischen Flüchtlingslagern?
Philippe Lazzarini: Corona bedeutet eine zusätzliche Dimension der Verzweiflung für die palästinensischen Flüchtlinge. Immerhin waren sie bereits von einer anhaltenden Wirtschaftskrise betroffen, einer regelrechten Pandemie des Elends. Darüber hinaus gibt es in vielen Gastländern wie dem Libanon oder dem Krieg in Syrien politische Krisen. In beiden Ländern war die Situation vor Corona so dramatisch, dass die Menschen ihre Nahrungsaufnahme weiter reduzieren mussten. Viele Familien können sich nur eine Mahlzeit pro Tag leisten. Fleisch ist für sie nicht mehr erschwinglich. Und das schon lange. Und dann kam die Corona.
WELT: Wie entwickelt sich die Pandemie in den Lagern?
Lazzarini: Die Anzahl der Infektionen mit dem neuen Coronavirus explodiert derzeit. Bis Juli hatten wir nur 200 Fälle der 5,6 Millionen Flüchtlinge gezählt, die wir betreuen. Heute sind bereits 9.000 Infektionen registriert. Dies entspricht einer mehr als 40-fachen Steigerung in weniger als drei Monaten. Mehr als zwei Drittel der Fälle wurden im Westjordanland entdeckt.
Besonders besorgniserregend ist jedoch, dass wir jetzt auch die ersten Fälle im Gazastreifen registriert haben. Da das Gebiet weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten ist, war es auch weniger wahrscheinlich, dass sich das Virus verbreitet. Wenn es sich jetzt nach Gaza ausbreitet, könnte es dramatische Folgen haben. Der Küstenstreifen ist besonders dicht besiedelt und schwer medizinisch zu versorgen.
WELT: Sind Sie überhaupt für die Pandemie gerüstet?
Lazzarini: Es gibt auch immer mehr Infektionen bei unserem medizinischen Personal. Wir haben jetzt wo möglich auf Telemedizin umgestellt. Wir lassen den Empfängern nach Möglichkeit auch Medikamente, Lebensmittel und Geldtransfers liefern. Wir brauchen aber auch dringend mehr Hilfe von der internationalen Gemeinschaft.
Uns fehlen Desinfektionsmittel für unsere Lager und Schutzausrüstung für unser medizinisches Personal. Wir brauchen auch mehr Lehrer und eine bessere digitale Unterrichtsinfrastruktur. In vielen Gastländern beginnt das Schuljahr wieder, und wir sind natürlich weit davon entfernt, allen Schülern zu Hause einen Computer oder ein Tablet anbieten zu können.
WELT: Können Sie erklären, warum sich das Virus in den palästinensischen Lagern so schnell verbreitet?
Lazzarini: Wir sehen derzeit in vielen Ländern einen erneuten Anstieg der Anzahl von Infektionen. Für die Palästinenser gibt es einen besonderen Umstand: Es gibt keine staatlichen Beihilfepakete für sie, da in anderen Ländern die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie gemindert werden. Aufgrund des dringenden Bedarfs werden viele Palästinenser immer nachlässiger.
Sie sagen uns: Wie halte ich mich an die Kontaktbeschränkungen, wenn meine Kinder nichts zu essen bekommen? Corona ist auch ein weiterer Faktor, der die Palästinenser in den Lagern immer wieder dazu bringt, über eine Flucht nach Europa nachzudenken. In letzter Zeit sind immer mehr Menschen mit dem Boot in den EU-Staat Zypern gereist, zum Beispiel im Libanon.
WELT: Sehen Sie eine Welle palästinensischer Flüchtlinge, die sich Europa nähern?
Lazzarini: Ich kann es noch nicht sagen. Aber es gibt einen neuen Trend. Besonders im Libanon, wo sich der Staat in einer tiefen Krise befindet, hoffen nicht nur immer mehr Libanesen, nach Europa zu kommen, sondern auch syrische und palästinensische Flüchtlinge. Wir sehen immer mehr Demonstrationen, auch von Palästinensern, vor den westlichen Botschaften in der Hauptstadt Beirut. Dort beantragen sie dann ein Visum oder eine andere Einreise. Sie demonstrieren vor allem vor den Vertretungen aus Kanada, den skandinavischen Ländern und Deutschland.
WELT: Was ist mit der Hilfe der Golfaraber für die Palästinenser? Sie waren lange Zeit wichtige Geber, aber viele Palästinenser betrachten das Friedensabkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain als Verrat.
Lazzarini: Recht. Die Vereinten Nationen haben die Abkommen zwischen den beiden Golfstaaten mit Israel begrüßt. Aber viele Palästinenser befürchten, dass sie jetzt verlassen werden. Ich habe mich kürzlich mit den Außenministern der Arabischen Liga getroffen und sie darauf hingewiesen, dass Spenden uns helfen, die Stabilität des palästinensischen Volkes aufrechtzuerhalten.
Indem wir diesen Menschen Perspektiven für die Zukunft geben, bewahren wir auch die sozialen Bedingungen, die für einen friedlichen Übergang erforderlich sind, wenn sich die Dinge zwischen den Israelis und den Palästinensern grundlegend ändern. Leider befindet sich die UNRWA seit Jahren in einer existenziellen Finanzkrise. Wir haben ein Budget von ungefähr einer Milliarde Dollar pro Jahr, aber wir haben immer ungefähr 100 Millionen zu wenig. Wir können nur etwa zwei Wochen im Voraus planen. Wir sind immer kurz vor einem Absturz.
WELT: Und bekommen Sie jetzt mehr Geld von den Golfarabern?
Lazzarini: Nachdem die Vereinigten Staaten ihre Spenden im Jahr 2018 vollständig eingestellt hatten, gab es eine große Welle der Hilfsbereitschaft und höhere Beiträge aus Europa und den Golfstaaten. Dies machte 2018 sogar zu einem besonders guten Jahr für uns. Die Golfstaaten haben diese Subventionen jedoch im vergangenen Jahr nicht auf dem gleichen Niveau gehalten. Um mehr Stabilität zu gewährleisten, möchte ich erstmals einen mehrjährigen Finanzplan vorlegen. Dafür brauche ich aber auch langfristige Finanzierungszusagen.
WELT: Es gibt auch immer Kritik an ihrer Organisation. Beispielsweise verwenden UNRWA-Schulen Bücher, die das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellen oder antisemitische Passagen enthalten.
Lazzarini: Solche Fälle werden auch verwendet, um unsere Arbeit als Ganzes zu diskreditieren. Obwohl diese Bücher in unseren Schulen verwendet wurden, wurden sie nicht von der UNRWA entwickelt oder veröffentlicht, sondern von den palästinensischen Bildungsbehörden und den Gastländern. Wir sind uns sehr bewusst, dass an unseren Schulen keine Inhalte unterrichtet werden, die den UN-Grundsätzen widersprechen.
Zu diesem Zweck haben wir beschlossen, insgesamt 86 palästinensische Lehrbücher zu überprüfen. Überall dort, wo wir problematische Bereiche gefunden haben, bitten wir die Lehrer, diese Inhalte nicht zu vermitteln. Wir bieten ihnen auch zusätzliches alternatives Material an, damit sie solche Präsentationen in den richtigen Kontext stellen und kritisches Denken lernen können. Die EU prüft derzeit auch palästinensische Lehrbücher. Wir folgen Ihren Empfehlungen. Ich habe auch einige dieser inakzeptablen Passagen in meinen Gesprächen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde aufgegriffen.
Die Verantwortung der US-Regierung hat uns gerade bestätigt, dass der Unterricht an unseren Schulen insgesamt den UN-Grundsätzen voll und ganz entspricht. Besser, um vorhandene Inhalte zu verbessern und Kindern zu helfen, kritisch zu denken, wie es die Lehrmethoden des UNRWA tun. Was wäre die Alternative, wenn wir keine Kinder in Gaza unterrichten würden?
WELT: Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass einige Ihrer Mitarbeiter eine zu unkritische Beziehung zu radikalen palästinensischen Organisationen oder zu Israels Feinden haben. Der Fall eines Ihrer Mitarbeiter in den USA, der auf einem von der Anti-Israel-Boykottinitiative BDS organisierten Seminar sprechen sollte, ist gerade bekannt geworden.
Lazzarini: Hier geht es nicht um einen Mitarbeiter der Vereinten Nationen oder der UNRWA, sondern der UNRWA USA. Dies ist ein privater Verein, der Spenden an die UNRWA sammelt. Als wir von dem Fall hörten, kontaktierten wir den Verein. Nach den öffentlichen Reaktionen beschloss der genannte Mitarbeiter, nicht am Seminar teilzunehmen.
WELT: Ist sie noch bei der UNRWA USA beschäftigt?
Lazzarini: Ich bin mir nicht sicher, aber ich nehme an, dass dies der Fall ist.
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